Chancen für einen weichen Brexit gestiegen

Auch die zweite Wahlrunde hat Boris Johnson klar für sich entschieden. Doch der anfängliche Außenseiter Rory Steward – seit 1. Mai als Entwicklungshilfeminister im Kabinett – holte überraschend auf und konnte sich nach den letzten beiden Wahlen jedes Mal einen Platz in der nächsten Runde sichern. Dies könnte zu einem spannenden Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen einem Brexiteer und einem Remainer führen.

In der zweiten Wahlrunde ging Johnson mit 126 von 313 Stimmen erneut als eindeutiger Sieger hervor, klar vor Außenminister Jeremy Hunt mit 46 Stimmen und Umweltminister Micheal Gove (41 Stimmen). Doch die verbliebenen Anwärter bekommen ernsthafte Konkurrenz, und zwar von Rory Steward, der mit 19 Stimmen bei der ersten Wahl knapp Platz sechs ergattern konnte. Bei der zweiten Wahl schaffte er es mit 37 Stimmen sogar noch vor Innenminister Sajid Javid, der mit 33 Stimmen gerade noch einen Platz in der nächsten Runde behaupten konnte. Der nachdenkliche und charismatische „Remainer“ Rory Steward habe Potential und könnte sich dank seines spontanen Straßenwahlkampfes, der ihm eine ungeheure mediale Aufmerksamkeit schenkte, zu einem Favoriten für die Stichwahl entwickeln. Als Einziger der sechs verbliebenen Kandidaten ist er der Meinung, dass es keinen besseren Deal mit der EU geben werde und schlägt dem Anführer der Brexit Partei Nigel Farage eine Zusammenarbeit vor. Der ehemalige Diplomat und Schriftsteller ist tief davon überzeugt Kompromisse zu finden und eine Einigung zu erzielen, wie bleibt jedoch vorerst unausgesprochen.

Ausgeschieden sind der frühere Brexit-Minister Dominic Raab, Ex-Arbeitsministerin Esther McVey, Mark Harper und die ehemalige Ministerin für Parlamentsfragen, Andrea Leadsom.

Boris Johnson, der gerne als Opportunist und Hasardeur, sogar Scharlatan abgetan wird, schlägt mittlerweile einen gemäßigteren Ton an und hält sich jetzt mit Aussagen wie „ein Austritt ohne Abkommen sei eine einfache, schmerzfreie Sache“ zurück. Um sich mit seinen provokativen und widersprüchlichen Aussagen nicht selbst zu schaden, dezimiert er seit einigen Tagen seine öffentlichen Statements und Interviews auf ein Minimum. Zum ersten TV-Duell für den Tory-Vorsitz am Sonntag erschien er nicht einmal. Dort brillierte dafür Rory Steward mit den Worten: „In meiner Kampagne geht es darum, die Wahrheit zu sagen“. Das gestrige zweite TV-Duell lief für beide nicht optimal. Steward, der Johnsons widersprüchliche Aussagen vor laufender Kamera zerpflückte, stellte sich mit einigen Aussagen selbst ein Bein. Seine Vorschläge das Brexit-Abkommen ein viertes Mal dem Parlament vorzulegen und momentan keine Steuersenkungen vornehmen zu wollen, stießen auf Widerstand. Die anderen drei Kandidaten schlugen sich dafür ganz gut.

Laut Umfragen sind die Tories – vornehmlich wohlhabend, männlich und im durchschnittlichen Alter von 57 – überwiegend für einen Brexit. Mehr als die Hälfte würden für den Ausstieg aus der EU sogar schädliche, wirtschaftliche Folgen, das Zerbrechen der eigenen Partei und – überraschend – des Vereinigten Königreiches hinnehmen. 59 Prozent fänden ein Ausscheiden der Provinz Irland und 63 Prozent eine Abspaltung Schottlands akzeptabler als den Verbleib in der EU.

Wann kommt eindeutiges Statement von EU?

Spannend bleibt, wie sich die EU zu Johnsons Drohungen äußern wird. Sollte „BoJo“ Premierminister werden, beabsichtige er die ausständigen Zahlungsverpflichtungen an die EU zu ignorieren und somit eine Neuverhandlung des Austrittsabkommens zu erzwingen. Von allen Seiten wird nun erwartet, dass die EU möglichst rasch diesem Spielchen einen Riegel vorschiebt. Beim EU-Gipfel diese Woche sollen sich die EU-27 dazu beratschlagen.

Doch es stellt sich die Frage, woher die britischen Möchtegern-Nachfolger diese Gewissheit über ein Entgegenkommen der EU nehmen? Hatte dies ihre Vorgängerin May nicht solange vergeblich versucht? Grund dafür gibt – ganz im Widerspruch zur restlichen EU – die im April getätigte Aussage von der CDU Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, die den Briten alternative Lösungen für den Backstop nicht verweigern würde, sollte es nur daran scheitern. Und auch die Polen hätten damals Gesprächsbereitschaft gezeigt. Ob sich da Boris Johnson nicht zu weit aus dem Fenster lehnt? Ähnliche Verhaltensweisen zum US-amerikanischen Präsidenten können mittlerweile nicht mehr geleugnet werden. Die Frage ist nur, wer den längeren Atem hat. Im Falle Trump sind es die Chinesen – und in Europa?

Wie geht es weiter?

In den nächsten Tagen sollen noch die letzten Abstimmungen stattfinden – bis schlussendlich die Zahl der Kandidaten auf zwei reduziert worden ist. Anschließend steht eine Wahlkampftour von Ort zu Ort auf dem Programm.

Eine geheime Stichwahl von den rund 160.000 Tory-Mitgliedern soll dann in der zweiten Julihälfte besiegeln, wer zukünftig die Macht erlangen wird – hoffentlich um dem Brexit-Spuk endgültig ein Ende zu bereiten.

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